Über Grenzen und Freiheit

Grenzen – man könnte meinen, in einer Welt voller Möglichkeiten würden sie an Bedeutung verlieren. Ich glaube aber tatsächlich, sie werden immer bedeutsamer. Wie fast alles kostbarer wird, wenn es seltener vorkommt. In den letzten Jahren habe ich mir sehr viele Gedanken über Grenzen gemacht. Im Allgemeinen und im ganz persönlichen Sinne.

von Carolin Sieling

Grenzen in der Gesellschaft

Unser Rechtssystem enthält vielen Grenzen, die Schaden verhindern sollen. Matthias Claudius (1740-1815) formuliert es so: „Die Freiheit besteht darin, dass man alles das tun kann, was einem anderen nicht schadet.“ Auf den ersten Blick ist das perfekt! Leben wir doch in einer Demokratie mit vergleichsweise vielen Freiheiten. Andere kümmern sich darum, was erlaubt ist und was nicht. Andere kontrollieren, dass die beschlossenen Grenzen eingehalten und Übertritte bestraft werden. Und wo es auf dem Land früher noch sowas wie Anstandsregeln gab, die einem moralische Grenzen setzten, weichen diese von Generation zu Generation auf und erlauben uns noch mehr Freiheiten. Aber das hat einen Preis.

Der Raum der Freiheit

Wenn Grenzen vorgegeben werden, verlieren wir im – ich nenne ihn mal „Raum der Freiheit“ – unser Verantwortungsgefühl und es werden weitere Grenzen notwendig, um Schaden zu verhindern. Ein Beispiel: Wir dürfen auf der Landstraße 100 km/h schnell fahren. Blitzer kontrollieren hier und da, dass wir diese Grenze einhalten. Eine Vielzahl an Dingen wie Wetterverhältnisse, Fahrbahnbeschaffenheit, Verkehr sind weitere Grenzen, die jedoch nicht offiziell festgelegt sind. Sie liegen in unserem Ermessen und basieren vertrauensvoll auf Rücksichtnahme und Verantwortungsgefühl. Das – so hat es zumindest den Anschein – ist weniger gewichtig als offizielle Grenzen wie Gesetze. Und so nutzen wir unseren Raum der Freiheit gerne voll aus und ärgern uns über die vielen Geschwindigkeitsbegrenzungen z.B. an schlecht einsehbaren Kreuzungen. Oder die schlechte Einstufung unseres Autos bei der Typklasse in der KFZ-Haftpflicht. Denn Schaden kostet.

Damit sorgen wir unbewusst dafür, dass der Raum innerhalb der Grenzen immer enger wird und vielleicht sitzen wir trotz all unserer Möglichkeiten bereits eigentlich schon im goldenen Käfig?

Was machen Grenzen mit uns?

Grenzen sind also wichtig – vor allem im ganz persönlichen Sinne. Es scheint dabei aber einen Unterschied zu machen, woher sie kommen. Ich selbst bin bis heute bei Entscheidungen immer wieder hin und her gerissen zwischen zwei Fragen:

  1. Setze ich (meine Ängste) mir meinen eigenen Grenzen zu eng? (Alias im Fremdbild: Du kannst doch viel mehr.)
  2. Als Frau mit der starken Tendenz zum People Pleaser: Müsste ich nicht viel mehr Grenzen setzen? Beziehungsweiße meine Grenzen früher setzen?

Auf den zweiten Blick hat beides lustigerweise das gleiche Ergebnis. Mein Raum wird größer und ich erobere mir selbst mehr Freiheit. Wo liegt also das eigentliche Problem? Das Doofe an der Freiheit ist, sie bringt auch Ungewissheit und Gefahren. Grenzen geben Sicherheit und sorgen dafür, unsere Welt voller Möglichkeiten besser überschauen zu können. Freiheit ist dann lustig, wenn jemand anders die Verantwortung trägt. Müssen wir selber entscheiden, Verantwortung tragen, Rücksicht auf uns und andere nehmen – dann ist das alles schon weniger lustig und anstrengend.

Verantwortungsvoll Grenzen setzen

Wenn ich meine Grenzen für mich und andere also setze, möchte ich, dass dabei möglichst wenig Schaden entsteht. Denn … genau, Schaden kostet. Ob gesundheitlicher Schaden, mangelnde soziale Anerkennung, Geld … Die Auswirkungen von Grenzen, egal ob sie zu eng oder zu weit gesteckt werden, sind immer bedeutend.

Ich habe, vielleicht aus genetischer Veranlagung, meiner Rolle als Sandwich-Kind, meinen Erfahrungen oder womöglich einem Aszendenten Waage (muss ich einmal prüfen), bislang einen großen Hang zur goldenen Mitte. Grundsätzlich, aber auch beim Thema Grenzen. Die goldene Mitte bedeutet für mich Balance, annehmbares Risiko, Harmonie, … nicht selten auch Kompromiss, weil es gerade bei Entscheidungen zwischen sehr gegensätzlichen Möglichkeiten eine Art Schlupfloch ist. Die Mitte ist das Gegenteil zu den Extremen und die sind ja wohl nicht sehr verantwortungsvoll, oder?

Grenzgänger: Wir müssen ab und zu extrem sein

Die vernünftige Einstellung wurde durcheinandergewirbelt, als ein experimentierfreudiger, extrovertierter, motivierter und visionärer Mensch zu meinen Weggefährten wurde. Es war vollkommen neu für mich, dass jemand nicht wie selbstverständlich hinter der Grenze blieb, sondern Spaß daran hatte auf ihr herumzutanzen und regelmäßig zu schauen, ob man sie nicht etwas erweitern könnte. Es war neu und es war unglaublich anstrengend. Denn Grenzen ausreizen, Freiheiten bei voller Selbstverantwortung voll ausschöpfen – das ist, auch wenn kein Schaden entsteht, Stress. Für mich als Fan der Mitte manchmal sogar Stress pur. Und es betraf jeden Aspekt des Lebens. Sport, Essen, soziale Interaktion mit Mensch und Tier, Parkplätze … – einfach alles. Oft gab es dann auch Streit, weil ich dachte, er macht es, um mich zu ärgern oder zu verletzen.

Inzwischen weiß ich, dass es damit rein gar nichts zu tun hat. Und ich sehe, wie viele liebgewonnene Freiheiten ich durch das Grenzen umstecken bekommen habe. Und ich verstehe, dass die goldene Mitte ein sehr schönes Synonym ist für Komfortzone. Wer die Komfortzone nicht verlässt, kann sich nicht weiterentwickeln.

Und dann wird die goldene Mitte zum goldenen Käfig.

Grenzen neu entdecken – Columbus werden, Stück für Stück

Im Coaching bezeichnet man diese Formen der Erkenntnis als „Mindsetting“ oder „Inner Engineering“. Die Erkenntnis alleine, veränderte mein Verhältnis zu Grenzen allerdings nicht. Es braucht Training und damit wächst das Selbstvertrauen. Noch heute ertappe ich mich immer wieder dabei, Grenzen aus Angst nicht zu überwinden und mit der Vernunft zu erklären. Und das ist okay. Niemand würde auf die Idee kommen, von einer Erstklässlerin zu erwarten, ein Buch zu schreiben. Niemand würde es für möglich halten, dass ein Untrainierter einen Marathon läuft. Wichtig ist, sich den aktuellen Trainingsstatus immer wieder bewusst zu machen und die Grenze ein bisschen weiter zu stecken. Und das ist wiederum nichts anderes als Achtsamkeit in der Praxis.

Grenzen verantwortungsvoll zu stecken, heißt aber eben auch Rücksichtsnahme. Grenzen sind und bleiben wichtig, wenn wir mit uns und anderen achtsam umgehen wollen.

Dieser Text ist für mich heute ein Stück Selbstreflexion. Er erinnert mich an meinen Trainingsstand und motiviert mich für eine neue Trainingsstufe. Ich hoffe, dass wir für uns und in der Gesellschaft einen verantwortungsvollen Umgang mit diesem Thema finden. Viel Spaß beim Trainieren 😉

Herzlichen Gruß Carolin